Marco Dirr
Marco Dirr – Woche 3 – ꓨambarogno
Jun 7, 2021
Hinter mir der Wald vor mir der Lago. Ich kehre dem Berg seit Tagen den Rücken zu und blicke stets zum See, da mich Wasser schon immer mehr fasziniert als Berge. Aber heute Morgen, war er kurz in meinem Traum und nun interessiert er mich der Gambarogno. Ich packe schnell ein paar Dinge in meinen Rucksack: Wasser, eine Brotzeit, ein Messer, eine Taschenlampe und eine Karte des Geländes. Ich ziehe mir feste Schuhe an und dann schließe ich die Türe hinter mir und stiefle los. Durch das kleine Dorf, welches ich schnell hinter mir lasse, hinein in den Wald. Die Wege sind übersichtlich markiert und die Sonne scheint, es ist warm und im Schatten der Bäume ist es sehr angenehm zu laufen. Das Licht strahlt durch die Baumkronen und bald schon habe ich die Sass da Grüm erreicht. »Hier können Sie Kraft tanken, Natur und Stille erleben, den neuen Yoga-Parcours begehen oder Panorama-Wanderungen unternehmen«, steht da geschrieben. Ich gehe schnell an dem Hotel vorbei und folge meinem Pfad, er trägt eine weiß-rot-weiß Markierung, die leicht ersichtlich auf Baumstämmen und Felsen gepinselt wurde. Ich spüre wie meine Beine schwerer werden, da ich schon eine Weile nach oben steige. Ich komme an einem kleinen Bächlein vorbei, das sich von oben herab seinen Weg ins Tal bahnt. Vor mir tut sich eine Weggabel auf, es gibt auch eine eindeutige Markierung weiß-rot-weiß nach links, aber der andere Weg, den man etwas schwerer erkennen kann und der direkt am Bächlein entlang führt, sieht etwas anspruchsvoller und interessanter für mich aus. Auf der Karte ist er nicht eingezeichnet, aber der Richtung nach zu urteilen, würde er ein Stückchen weiter oben wieder auf den regulären Pfad treffen. Also entscheide ich mich diesen steinigeren Pfads entlang am Wasser zu laufen. Ein paar Meter weiter, an einem Fels, der etwas über den Weg ragt, erkenne ich eine andere Markierung. Eine kleine Spirale die in den Fels hinein geschlagen oder gekratzt wurde: ꓨ
Eine Weile folge ich diesem Weg am Bächlein entlang. Dann führt er vom Bach weg und neben mir stehen duftende Sträucher an denen unzählige Bienen und Hummeln den Nektar der vielen kleinen Blüten sammeln. Es sind so viele, dass es sich anhört, als würde ein ganzer Schwarm neben mir fliegen. Ich beobachte die fleißigen Insekten, als sie plötzlich anfangen sich zu attackieren. Sie stechen sich gegenseitig und fallen zu Boden. Sie schießen von den Blüten weg, um sich auf eine andere Biene zu werfen und ihr tödliches Gift zu injizieren. Ich denke, es könnte sich um einen Krieg zwischen zwei rivalisierenden Bienenvölkern handeln, aber auch die Hummeln und sogar ein paar Schmetterlinge greifen sich gegenseitig an. Am Boden um die Büsche herum liegen viele verknotete Insektenkörper, einige bewegen sich noch ein wenig, doch auf einmal ist es auch viel ruhiger, man hört kein Summen mehr, kein Flügelschlag, aus den Blüten wird kein Nektar mehr getrunken, der steinige Boden sieht aus wie ein Schlachtfeld.
Ich gehe weiter an den Sträuchern vorbei und der Weg führt tief in den Wald hinein. Er schlängelt sich durch die Baumstämme bis er nun an einer steilen Klippe entlang führt. Neben mir kann ich ins Tal hinabsehen, unter mir liegt der Lago Maggiore. Ich beobachte eine Eidechse, wie sie mühelos über die großen Steine flitzt. Sie sieht mich kurz an, bleckt mit der Zunge und dann springt sie in einem großen Satz den Vorsprung hinunter ins Tal. Ich gucke ihr hinterher, es geht bestimmt 30 Meter oder tiefer in den Abgrund. Ich gehe ein Stückchen weiter, wieder rennt eine Eidechse erst über steinigen Weg geradewegs auf den Abgrund zu, dann springt auch sie hinunter. Ich traue meinen Augen nicht recht. Warum springen sie da hinunter? Diese Höhe ist doch selbst für die Echsen tödlich. Wieder eine und noch eine und auf einmal bestimmt zehn Eidechsen, die über den steinigen Weg zum Abgrund rennen und dann einfach hinunter springen, als gebe es keinen Sinn mehr weiter ein Dasein als Echse zu führen. Ich bleibe stehen, denn mit jedem weiteren Schritt, den ich mache springt von irgendwoher eine Eidechse den Abgrund hinunter. Ich sehe mich um, wenn ich ganz ruhig bin und mich nicht bewege rennt auch keine Eidechse vor mir weg und springt hinunter. Mache ich einen Schritt, erschrecken sie so sehr vor mir, dass sie sich selbst in den Abgrund werfen. Ich bleibe bewegungslos und warte.
Als ich wieder einen Schritt mache, passiert nichts. Vorsichtig versuche ich einen Weiteren, keine Eidechse in Sicht. Ich sehe vom Boden auf, in einiger Entfernung vor mir steht ein weißes, großes Tier. Es sieht aus wie ein Reh oder ein junger Hirsch. Es steht auf dem Pfad und sieht mich direkt an. Es muss ein Albino sein, denn und jetzt bin ich mir sicher, der junge Hirsch hat rote Augen. Ich gehe langsam und ruhig den Pfad weiter. Der Hirsch beobachtet mich skeptisch. Nur ein paar Schritte und ich komme ihm anscheinend zu Nahe und in großen Sprüngen bringt er sich in sichere Entfernung. Er steht nun vielleicht 20 Meter vor mir. Sein Körper im Profil, den Kopf aufmerksam und neugierig auf mich gerichtet. Ich gehe gleichmäßig aber langsam den Pfad entlang auf ihn zu. Er beobachtet mich und als ich ihm wieder zu Nahe bin, springt er eilig davon, um mich wieder aus sicherer Entfernung beobachten zu können. Das geht eine Weile so weiter. Er lässt mich nie nah an sich ran. Der Weg wird steiler und er wird von Felswänden abgetrennt, sodass nicht mehr viele Fluchtmöglichkeiten für den Hirsch bleiben, außer weiter auf dem Pfad entlang nach oben zu springen. Dann bleibt er wieder stehen und blickt mir tief und ernst in die Augen. Warum weiß ich nicht, er hätte sich schon längst aus dem Staub machen können und ich wäre ihm nicht nachgegangen, aber er blieb die ganze Zeit über auf dem Pfad, mit den Zeichen: ꓨ
tbc
Marco Dirr – Woche 1 – Ɲucleo
May 22, 2021
Es sind die natürlich stattfindenden Inszenierungen des Alltags, die mich in meinen Texten und Fotografien gleichermaßen interessieren. Das Suchen und Finden von Bildern, des Banalen und Beiläufigen. Meine Fotografien sind auf Film gebannte Spuren des Staunens über die Welt. Jedes Bild ist gleichwertig. Ein Spiel mit dem Moment und dem glücklichen Zufall. Verzicht auf Erklärung und Sinn. Das Bild wird zum Ort der Begegnung.
Mein Name ist Marco, ich lebe in Leipzig, jetzt bin ich im Nucleo Vairano. Während der Zeit hier im Casa Sasso arbeite ich an einem Projekt, das mich schon einige Zeit lang begleitet. Es trägt den Titel Aporía. Fotografien skurriler Formen von Körpern und Gesichtern, umgeben von Natur. Obskure Kurzgeschichten ergänzen diese Fotografien.
Heute beginne ich eine erste Erzählung zu schreiben, in der ein paar Eidechsen unerwartet Selbstmord an einer Klippe begehen.