Molikül Magazin
Jun 6, 2025
HINTERGRUND
Mit dem MOLIKÜL MAGAZIN suchen wir nach Verbundenheit jenseits der gängigen Familien- und Beziehungsstrukturen. Durch soziale und künstlerische Praxis suchen wir nach erlebbarer Gemeinschaft. Das Molikül Magazin ist nicht nur als klassisches Printmagazin mit Textbeiträgen gedacht, sondern als weitergefasstes Projekt: Einmal pro Jahr soll eine Ausgabe des Magazins zu einem bestimmten Schwerpunkt erscheinen und in einer Release-Veranstaltung vorgestellt werden.
“Von meinem Fenster aus sehe ich, wie eine Mutter ihren Jungen an der Hand hält und den leeren Kinderwagen vor sich her schiebt. Sie marschiert unerschütterlich in ihrem Tritt; der Junge wird gezogen, gezerrt, stolpert, muss die ganze Zeit über rennen. Sie geht in ihrem Rhythmus, ohne zu merken, dass der Junge einen anderen hat. Die Wirkung der Macht – die Subtilität der Macht – geht über Dysrhythmie.”
Das klassische Familiensystem ist strukturell von einer entrückten Logik gekennzeichnet, weil es unterschiedliche Individuen zwingt, ihre Existenz innerhalb eines geteilten Ortes des Zusammenlebens zu entfalten, was zwangsläufig starke kollektive Zwänge hervorruft, sagt Roland Barthes. Er spricht von dominanten Lebensrhythmen auf der einen und herabgewürdigten, illegitimen Lebensrhythmen auf der anderen Seite. Wir denken, da ist einiges dran und wir wollen für das MOLIKÜL MAGAZIN erkunden, wie es möglich sein könnte, dass alle ihren eigenen Rhythmus leben, dabei aber dennoch zeitweise Gemeinschaft und Vielklang entstehen kann.
Je mehr ein Individuum mit anderen Gruppen und Lebenszusammenhängen als den eigenen in Kontakt kommt, desto mehr erweitert es seinen geistigen Raum. Inwieweit könnte der Eintritt ins Familienleben als ein Prozess in Frage gestellt werden, der soziologisch betrachtet eine Schwächung und Stereotypisierung der Persönlichkeit mit sich bringt? Trägt diese Lebensform nicht dazu bei, dass man einfriert, was man ist (Annie Ernaux spricht von einer verheirateten Frau, die sich der Hausarbeit widmet, als von einer “gefrorenen Frau”), und dass die angenommenen Identitäten und sogar die erlebten Emotionen erstarren? Die Einreihung des Selbst in traditionelle Beziehungs- und Familiensysteme erzeugt fast systematisch eine Ausrichtung der psychischen Investition auf das Heim und das Private, die man nicht anders denn als Rückzug und Einschränkung bezeichnen kann. Mit dem Wechsel des Selbst ins Familienleben wechselt das gesamte geistige Universum – eine Art große Abschottung, Verarmung des Beziehungsgeflechts, bei der man sich fragen kann, ob sie nicht auch zwangsläufig mit einer tiefgreifenden Veränderung des Verhältnisses zum Leben und zur Außenwelt und damit auch zur Politik verbunden ist.
Während der dreiwöchigen Residency-Zeit im Casa Sasso haben wir den Grundstein für die erste Ausgabe des MOLIKÜL MAGAZINS gelegt. Wir haben dabei das Haus selbst als thematischen und gestalterischen Schwerpunkt genommen, denn:
“Das Einfamilienhaus tendiert nach und nach dazu, zum Ort der Fixierung aller Investitionen zu werden: der Investitionen, die in der – materiellen und psychologischen – Arbeit stecken, die notwendig ist, um es in seiner so oft von den Erwartungen entfernten Realität zu akzeptieren; der Investitionen, die es durch das Gefühl des Besitzes hervorruft, das die Verhäuslichung der Bestrebungen und Projekte bestimmt, die nunmehr auf die Grenze der Schwelle beschränkt und in die Ordnung des Privaten eingeschlossen sind – im Gegensatz zu den kollektiven Projekten des politischen Kampfes zum Beispiel, die immer gegen die Versuchung des Rückzugs auf das häusliche Universum erobert werden mussten. Die Zelle von klassischer Beziehung und Familie muss als das wahrgenommen werden, was sie ist: eine Einheit, die sich mit einer politischen Ideologie verknüpft: Sie schafft eine Existenz, die sich auf die Erziehung der Kinder und den Kult des häuslichen Lebens konzentriert, und verkörpert eine Art kollektiven Egoismus.“
Das Molikül Magazin ist nicht nur als klassisches Printmagazin mit Textbeiträgen gedacht, sondern als weitergefasstes Projekt: Das Rahmenprogramm des Releases und der Entstehungsprozess von Magazin + dazugehöriger Veranstaltung sind dabei genau so wichtig wie die eigentlichen Magazin-Beiträge.
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ENTSTEHUNG VON BEITRÄGEN
“Die Idee war so, wir gehen mit Menschen essen, unterhalten uns und du schreibst das auf. Und im besten Fall kommt dann etwas Erfahrbares über dieses Gefühl heraus – das Geheimnis dahinter. Beim Schmecken. Beim Reden. Beim Schreiben.“

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“Sunprint paper goes through a chemical change when exposed to light. Try this experiment and watch an image emerge.“
Entwerfe einen Vorschlag für unser Magazin-Logo. Du kannst dazu zum Beispiel blumige Tischunterlagen in der Badi bemalen, einen moliküligen Gegenstand auf dem Sunprint Kit von der Sonne nachzeichnen lassen mit einem gedruckten Logo auf dem Kopierer herumwackeln, sodass dabei Kopier-Kunst entsteht oder oder oder. Zeichenutensilien findest du im und auf dem Wohnzimmerschrank.

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“Solange man sich bewegt, kann es besser werden. Eine tröstliche Erkenntnis.“
Familie als Lebensform, in der man einzufrieren versucht, was man ist. Das Einfamilienhaus als Manifestation dieses Fixierungs-Versuches.
Nimm einen der Fotoapparate und halte ein flüchtiges Zuhause-Gefühl in Bewegung fest — vielleicht ist Zuhause für dich hier der Fahrtwind im Cabrio, vielleicht ein verklebtes Schneckenhaus am Wegrand, vielleicht das Gemeinschaftsgefühl und die Zweifel-Chips, die bei unserem Gartenfest vom Winde verweht werden?

“J. sagt, ich solle patschen und der Ball fliegt irgendwohin als hätte ich nicht richtig gepatscht, bunte Dinos kleben zwischen den Zähnen und der Dyke-Vibe liegt am Strand und vertreibt alle bösen Geister der Vergangenheit. Dann tauchen unsere Spaghettiarme in das Wasser, schwimmen weit hinaus und die Muskeln wachsen uns. Wir sprechen über die Party und M. stellt treffend fest: Wenn man eine Party plant, ist der Abend davor eigentlich schon die Party und eigentlich ist bereits der Kreis im warmen Sand aus den queeren Körpern eine Party. Sie erkennen uns von außen, wir lachen laut und fühlen uns sicher. J. sagt, dass wir jetzt auch nicht besonders individuell gekleidet sind mit unseren schwarzen Kleidungsstücken und den silbernen Ketten. Aber das ist auch irgendwie egal oder genau richtig und wir blicken in die geschlossenen Schaufenster eines Brockis auf der Suche nach neuen Accessoires und Codes und danach brausen wir im schwarzen Gangster-Cabrio davon.“
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Wir schreiben einen deutschsprachigen Songtext für das Lied “Bello e impossibile” von Gianna Nannini und das wird unser Sasso Song. Eine poppige Anti-Hymne für unser Zuhause auf Zeit, das weder von romantischer Liebe noch von Familienidylle träumt – stattdessen dreht sich unsere Version des Songs vielleicht um Queers mit ölverschmiertem Werkzeug und Holzhacken im lässigen Feinrippunterhemd auf Dyke Paradise?! Füge ein paar Songzeilen hinzu oder texte den gesamten Song um, wie du magst.

“Deine Hände entfachen das Feuer, das mich verbrennt. Schön, schön und möglich.“
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“Ich habe eure Eingabe für die Residenz mit grossem Interesse gelesen. Euer Anliegen mit dem Magazin hat sich mir völlig erschlossen und ich fühle mich wieder etwas in die Ideen- und Gedankenwelt in meiner Jugend zurückversetzt. Eine kleine Sehnsucht kommt da bei mir auf.“
Streiche fast alles durch, bis nur noch Rotz für 15,50 Euro übrigbleibt. Oder etwas anderes, nach dem du dich heimlich sehnst.

Die MOLIKÜL REDAKTION wird stetig erweitert, aktuell besteht sie aus: Moïra Gilliéron, Julia Fuhr Mann, Kathy Bajaria, Magdalena Emmerig, Gianna Grünig, Katherine Halbach, Karolin Heckemeyer, Bernadette Kolonko, Yv Nay, Anahí Pérez, Lara Rubin, Onna Stäheli, Ninsch Stehlin.