Lulu&Whiskey Week 2-4

Oct 5, 2021

Im Wald ist es nie ganz still. Man glaubt nur, es wäre still, aber immer gibt es eine Menge Geräusche. Ein Specht klopft in der Ferne, ein Vogel schreit, der Wind knistert in den Blättern, ein Ast schlägt an einen Stamm, und die Zweige rascheln, wenn kleine Tiere unter ihnen durchschlüpfen. Alles lebt, alles arbeitet.
Erinnerungen steigen aus dem schweren Leib auf und sinken nieder im trägen Lauf des Blutes. Ich weiss gar nichts darüber. Ich kann ruhig vergessen, dass ich eine Frau war. Manchmal bin ich ein Kind, das Erdbeeren sucht, dann wieder ein junger Mann, der Holz zersägt, oder wenn ich auf der Bank sitze und der sinkenden Sonne nachsehe, ein sehr altes, geschlechtsloses Wesen. Ich bin einem Baum ähnlicher als einem Menschen, einem zähen braunen Stämmchen, das seine ganze Kraft braucht, um zu überleben. Oder es fehlen mir nur noch Krallen, ein dichter Pelz und lange Fangzähne und ich bin ein völlig angepasstes Geschöpf.

Frei nach «Die Wand» 1963, Marlen Haushofer


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